Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Die geistige Menschheitseinheit

Durchschauen der Erscheinung

Inwiefern dieses grundsätzlich möglich ist, brauche ich Ihnen nicht näher auseinanderzusetzen; nichts anderes hat die Schule der Weisheit von Anfang an gelehrt. Aber auch die praktische Möglichkeit muss gerade Ihnen offenbar sein, denn der Zusammenklang dieser Tagung hat ja in Ihrem Geist eben die Sinnes-Einheit erstehen lassen und bewusst gemacht, welche jenseits der unzurückführbaren Vielfalt der Phänomene lebt. Sie haben verstanden, inwiefern jedes Besondere einzig und ausschließlich sein muss und doch einer höheren Einheit innerlich angehört. So brauche ich nur kurz zu erläutern. Der Prozess der Niveauverschiebung einer Geistesgestaltung vom Buchstaben dem Sinneszentrum zu ist in einem Sätze eindeutig zu bestimmen: er besteht im Durchschauen der Erscheinung. Jede lebendige Erscheinung ist erstlich und letztlich Sinnbild, denn des Lebens Wesen ist überall Sinn. Jedes Sinnbild, für eine Bewusstseinslage die letzte Instanz möglicher Sinneserfassung, ist aber seinerseits einer tieferen durchsichtig, und dies bis zur Unendlichkeit, denn im Sinneszusammenhang des Lebens hängt alles innerlich zusammen und wurzelt zu tiefst in dem, was als Wirklichkeit dem Grenzbegriff der Gottheit entspricht. Deshalb ist keine Geistesgestaltung jemals letzte Instanz, deshalb wird jeder Sinn, sobald er durchschaut ist, automatisch zum bloßen Buchstabenausdruck eines tieferen. Damit bedeutet aber die alte Erscheinung Anderes, Neues. So können Katholizismus, Protestantismus, griechisch-katholische, islamische, buddhistische Religiosität auf der Ebene dieses Lebens grundsätzlich bleiben, was sie waren, und dennoch völlig Neues bedeuten. So könnte der römische Katholizismus, ohne undogmatisch zu werden — das ist einer Lehre unmöglich —, überdogmatisch vom Standpunkt seiner heutigen Dogmen werden, und damit grundsätzlich fähig, den ganzen Menschheitskosmos in sich zu zentrieren, ohne am Sinn, d. h. dem Lebensprinzip seiner Dogmen das Mindeste zu ändern. Er würde nur alle umdeuten. Aus der Psychoanalyse ist bekannt, wie objektivierte Seelenzustände, die im Bilde von Dämonen das verengte Ich bedrängen, durch Verstehen auf die Subjektstufe zu heben sind: dann hört die Bedrängung auf, denn das scheinbar Fremde wird nun zum Eigenen hinzugenommen, und ein weiteres und tieferes Ich zugleich ist damit aufgebaut. Auf eben die Weise hat sich die Menschheit im Lauf der Jahrzehntausende, die sie vom Urzustande trennen, ein äußeres Pantheon nach dem anderen unbewusst weganalysiert. Und dementsprechend reicher ist das Ich geworden. Nun, nichts anderes als ein Schritt weiter auf dem gleichen Weg tut heute not. Es gilt den Sinn der bisherigen Konfessionen wie aller sonstigen Gestaltungen zu durchdringen, denn wesentlichen Fortschritt gibt es nur nach innen, dem Sinne zu.

Ist nun aber der Sinn durchdrungen, was dann weiter? Nun, dann wird Vieles von selber anders, auch in der Erscheinung, denn es ist jetzt anders. Der Sinn schafft ja überall den Tatbestand. Ein durchschauter Protestantismus ist nicht mehr der alte Protestantismus. Eine durchschaute Orthodoxie ist nicht mehr die alte Orthodoxie. Ein durchschauter Katholizismus ist nicht mehr der alte Katholizismus. Alle Einseitigkeit ist damit innerlich überwunden. Jede Gestaltung ist nunmehr an ihren astrologisch richtigen Ort gestellt und zugleich als raum-zeitlich bestimmter Sinnesausdruck verstanden. Dies muss aber für die Dauer auch eine Wandlung der äußeren Erscheinung zeitigen. Was den dann entstehenden wahrhaftigen und echten Katholizismus betrifft, dessen bloßer Mutterschoß der historische bedeutet haben würde, so würde er nicht allein überkonfessionell, sondern überchristlich sein. Er würde damit zum einheitlichen Rahmen aller fortan noch lebensfähigen Gestaltungen werden — lebensfähig insofern, als das Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck in ihnen nicht übertreten erschiene, welche Übertretung immer sicheren und schnelleren Tod zur Folge haben wird, je sinnbewusster die Menschheit wird. Er würde zur Seele aller Weltanschauungen, wie er ja schon heute die verschiedensten einseitigen Typen in sich begreift. Und das Katholische als solches würde damit zu einem nicht nur Überkonfessionellen, sondern zu einem Jenseits zugleich der bisherigen Weltreligionen. Es würde zum allgemeinen Ausdruck der Menschheitseinheit, welcher alle Menschen bewusst fortan angehören würden. Dann aber würde der historische katholische Typus zugleich eingestandenermaßen zudem, was er, psychologisch betrachtet, immer war, und als welcher er auch hier im Zusammenklang gewirkt hat: als einseitige Gestaltung unter anderen, nur jetzt im Rahmen des wahren Katholizismus. Denn der römische Katholik ist tatsächlich ein besonderer Menschentypus, dem Protestanten nicht überlegen, sondern seelisch anders als er, und in vielem unterlegen. Der katholische Mensch aber würde dann als Synonym des ökumenischen, des eigentlichen Menschheitsmenschen verstanden werden, nicht mehr als Bekenner einer bestimmten Konfession. Als der Mensch, der ganz im Sinn verwurzelt lebend, alle Erscheinung durchschauend, weltüberlegen wäre. Die meisten heutigen Katholiken werden diese Entwicklung ablehnen. Aber genau so hat das Judentum es abgelehnt, nur die Vorstufe des Christentums zu bedeuten. So lehnte wohl auch die Eichel ab, nur die Vorstufe der stolzen Eiche zu sein. Wir stehen noch lange nicht am Ende der Geschichte.

Es versteht sich von selbst, dass im Wandlungsprozess, den ein Durchschauen der bisherigen Gestaltungen automatisch einleitet, vieles ganz anders werden wird, als es war. Im Eingangsvortrag zeigte ich, dass absolute Kongruenz von Sinn und Ausdruck, und dies von der Tiefe bis zur äußersten Oberfläche, die Bedingung der dauernden Lebensfähigkeit jeder Gestaltung darstellt; damit war gesagt, dass fortan jeder wissenschaftliche Irrtum todbringend wirken werde. So wird alles das an Dogmen und sonstigen Formen jeder Religion unweigerlich fallen müssen, was der Kritik vom Sinne her nicht standhält. Daraus wird sich dann einerseits das Aussterben aller niederen Religionsformen ergeben, andererseits eine gegenseitige Befruchtung der höheren, von denen freilich alle, die einer möglichen Grundeinstellung sinngemäß Ausdruck verleihen, fortleben werden, nur eben alle in einer Umdeutung, die ihren kosmischen Ort richtig bestimmte. Hieraus folgt denn, dass das ökumenische Christentum der Zukunft nicht etwa aus einer Zusammenlegung, sondern einer Auseinandersetzung der heutigen Religionen (von den Konfessionen zu schweigen) hervorgehen wird, wie sie jetzt unbewusst in den Seelen aller gläubigen Christen statthat, die sich ernstlich in andere Religionen vertiefen und sie zu verstehen suchen. Ja, vieles wird in diesem Prozesse anders werden. Nur eines nicht: die Stellung zum Göttlichen an sich. Damit beantworte ich denn eine Frage, die mir von katholischer Seite oft schon gestellt wurde. Religion hat, par définition, nur der, dem nicht der Mensch, sondern ein Höheres das Subjekt seines Erlebens ist, dem sein religiöses Realisieren insofern als Gnade und nicht als Verdienst zuteil wird, der subjektiv hinnimmt, was ihm von Höherem gewährt wird. An diesem Wesentlichen aller Religiosität ändert Durchschauen nichts. Das hat im Großen Indien, bei uns das Beispiel der Mystiker erwiesen. Aber gerade damit, christlich ausgedrückt, Gott zum Menschen sprechen kann, muss dieser von sich aus mancherlei durchschauen, was früheren Menschen letzte Instanz sein durfte.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Die geistige Menschheitseinheit
© 1998- Schule des Rades
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